Erfolgsbericht

Die schöne Erfolgsgeschichte von Till Raab

Bis ich Till Raab im Sommer 2009 auf Ibiza kennengelernt habe, war der Mann zwei Jahre auf dem Fleck gerollt, still gestanden, nur im Rollstuhl unterwegs und ohne Perspektive. Er war Juni 2007 bei seiner Arbeit als Zimmerer mit dem Kopf vornüber ins Dach gefallen. Dabei hatte er sich Brustwirbel sieben und acht zertrümmert, war inkomplett querschnittgelähmt. Die Ärzte hatten ihn auf Rollstuhl mobilisiert. Aber als er da so an der Rezeption des Garbi-Hotels an der Playa den Bossa vorbeirollte, hat mich nur eine Frage interessiert: Was ist dem wohl passiert? Wann ich ihn ansprechen würde, war nur eine Frage der Zeit. Denn er konnte mit seinem rechten Bein wackeln. Das hatte ich beobachtet.

 

Am Pool ist es dann passiert.

 

„Hey Du, was hast Du?“, fragte ich den Mann aus Tauberfranken.

 

„Und Du?“, wollte er wissen.

 

„Ja, auch. Aber ich gehe.“

 

Er: „Waaaaaas? Und warum läufst Du wieder.“

 

„Weil ich trainiere.“

 

Der gute Till hatte sich mit zweimal Reha in der Woche abgefunden und dann eher Abteilung Wellness-Medizin. Da wurden Schmerzen gerne vermieden. Kaum echtes Training gehörte dazu, ein bisschen Massage, Übungen im Liegen, Vojta-Therapie mit der er Bewegungen übte, die ihn im Alltag als Rollstuhlfahrer weiterbringen. Kurz … Till absolvierte das volle Alibi-Programm, das die Kassen gerne zahlen und das keinen so richtig weiterbringt. Ich habe Till später noch oft gefragt, warum er nicht vorher schon drauf gekommen ist, dass er so keinen Meter mehr ohne Rollen vorwärts kommt. Die Antwort war immer ungenau, genauso wie die Ermutigungen seiner Mediziner und Therapeuten. Und damit kommen wir wieder zu der Kernfrage: „Hey Doc! Was wird aus mir?” Till Raab hätte es verdient, die ganze Bandbreite der Möglichkeiten aufgefächert zu bekommen. Denn da hätte eindeutig auch dazugehört: Du wirst wieder laufen können.

 

Das habe ich ihm dann zwei Jahre nach seinem Unfall gesagt, so rein aus dem Bauch heraus und mit einer gehörigen Portion Zweifel. So etwas sagt man einem inkomplett Querschnittgelähmten nicht so leicht. Nur ich durfte das, denn ich wusste, wovon ich sprach. Und nur mir hat Till Raab abgenommen, dass er verdammt nochmal in die „Pötte“ kommen muss, wenn er nicht irgendwann als übergewichtiger Querschnitt im Rolli und wohlmöglich noch an der Dialyse enden will. Denn das war 2009 definitiv seine mögliche Option im Vorruhestand. Dabei war der gelernte Zimmermann damals gerade mal 30 Jahre alt.

 

Till Raab hat einen Monat nach dem Ibiza-Urlaub gebraucht, um sich zu neu organisieren und zu motivieren. Nach zwei Monaten stand er das erste Mal seit seinem Unfall wieder richtig im Saft. Endlich hatte er mit Muskelaufbau begonnen, und der ist schweißtreibend. Ich hatte ihm Trainingstipps an die Hand gegeben. Er sollte zuerst seinen Rumpf genügend kräftigen, bevor es mit dem eigentlichen Gehtraining losgehen konnte. Außerdem verschrieb sich Till Raab eigenhändig „Trainingslager“ in einer Klinik für Leistungssportler. Er hat das am Anfang selbst gezahlt. Aber die Bundesgenossenschaft hat ihm schnell die Kostenübernahme zugesagt, auch weil seine Erfolge immer deutlich wurden. Nach sechs Monaten konnte Till bereits 100 Meter mit Rollator GEHEN!

 

Zehn Monate später waren es schon 300 Meter, 12 Monate später schon 600. Dafür hat er jeden Tag trainiert, am Anfang eineinhalb Stunden, später vier Stunden täglich. Alle drei Monate Trainingslager in einer Reha-Klinik ... der Onkel seiner Freundin Heidi ist Therapeut des Deutschen Skiverbandes. Dort werden viele deutsche Olympiasieger betreut und therapiert, unter anderem Maria Riesch die 2010 Doppelgold in Vancouver gewann.

 

Till Raab war auch für die Experten des Osteo-Zentrums Schliersee therapeutisches Neuland. Einen inkompletten Querschnitt zu behandeln ist natürlich etwas ganz anderes, als den Außenbandriss eines Hochleistungssportlers. Till Raab trainierte neben Slalom-Ass Felix Neureuther, der auch zu der Zeit behandelt wurde. Ihre Motivation hat beide verbunden, nämlich 100 Prozent zu geben für ihr Ziel. Und wenn ich jetzt gefragt würde, was schwieriger ist, als Gelähmter wieder laufen zu lernen oder als Sportler auf dem Treppchen zu stehen … ich müsste die Antwort schuldig bleiben. Denn der Aufwand erscheint mir ähnlich.

 

Schließlich schaffte Till Raab 600 Meter am Stück, auch ohne sein linkes Bein, das mit Orthese fixiert wurde. Durch Kompensation aus dem Oberkörper heraus gelang ihm diese Leistung, auch wenn sein linkes Bein immer noch komplett gelähmt war. Das Till Raab plötzlich nach 14 Monaten Training auch das linke Bein über Nacht bewegen konnte, war kein Mirakel. Aber es hätte gut als solches missbraucht werden können: „Wunder! Gelähmter kann wieder gehen!“

 

Das verdankt er neben dem Training einer neuen Technik, die mein leukämiekranker Vater ausgegraben hat. Papa Reinhard Holubek war es, der mir den Artikel über Prof. Marc Possover und die neue Schrittmachertechnik gegeben hat. „Lies mal. Klingt interessant.“ Das war eine sagenhafte Untertreibung, der sich mein Vater damals noch nicht bewusst war. Was ich in dem Artikel las, klang so unglaublich, wie die Erfindung des Handys zu Zeiten als alle noch mit Wählscheibe telefonierten. Da baut ein Professor in Zürich Querschnittgelähmten Schrittmacher in die Hüfte ein, die ihnen Organkontrolle wiedergeben und sogar per Stromimpuls die Muskeln reizen können!

 

Dass ich Prof. Possover treffen würde, war sofort klar … zusammen mit meinem Freund Till Raab, dem Zimmerer der mit dem Kopf voran ins Dach gefallen war. Ich erhoffte mir, dass er so per Techno-Doping noch besser trainieren könnte und gesünder würde. Till Raab reiste aus seinem „Trainingslager“ aus Schliersee an und fuhr nach vier Stunden Reha gen Zürich für das erste Gespräch mit dem Chirurg. Ich reiste mit dem Zug aus Bonn an. Till holte mich vom Zürcher Hauptbahnhof ab, um mit mir dann erst mal eineinhalb Stunden im Stau zu stehen. In Züri brannte an dem Tag der Böögg, ein Brauch, der den Winter vertreiben soll. Ständig hatten wir Angst, den Termin zu verpassen. Seine Bürochefin machte am Telefon auch schon Druck. Denn normalerweise wartet ein vielbeschäftigter Professor nicht stundenlang auf mögliche Patienten. So kann Fortschritt auch an Brauchtum scheitern. Wir kamen letztendlich eineinhalb Stunden zu spät, geblieben sind wir dann geschlagene vier. Ich habe noch nie mit einem Arzt so lange sprechen können und erst Recht nicht an einem offiziellen „Schwiizer“ Feiertag. Aber Professor Possover hatte sich extra so viel Zeit genommen. Denn Till Raab war ein äußerst interessanter Fall für ihn, der erste inkomplette QS, dem er seine Technik einbauen würde. Am Abend stand für uns fest: Wir bekommen Schrittmacher in die Hüfte, erst Till, und dann ich, sobald mir die Krankenkasse eine Kostenzusage gibt.

 

Prof. Possover hatte bis dahin 30 kompletten Para- und Tetraplegikern herkömmliche Herzschrittmacher in die Hüfte gesetzt und an ihnen dünne Kabel mit Elektroden befestigt, die die wichtigsten Nerven in der Hüfte reizen. Alle komplett Gelähmten hatten danach Blase und Darm wieder unter Kontrolle, waren nicht mehr inkontinent. Der Schrittmacher schickt den Schließmuskeln Strom. Der Mensch ist dicht. Per externe Fernsteuerung kann sich der Kranke entleeren, indem er das Gerät ausstellt. Er braucht keine Medikamente mehr, keine Katheter. Die Nieren bleiben gesund. Dem Patienten droht nicht der frühe Tod durch Nierenversagen. Außerdem baut der Strom wieder Muskeln im Gesäß auf. Die Gefahr entfällt, sich durch das lange Sitzen im Rollstuhl am Po wund zusitzen. Denn wenn das Gewebe nicht mehr durchblutet wird, dann stirbt es ab und fängt an zu faulen. Superman Christopher Reeve ist, wie bereits erwähnt, genau daran gestorben.

 

Allerdings hat der Schrittmacher vom Professor noch ein paar andere erwünschte Nebenwirkungen. Das Teil ist ein wahrer Schrittmacher und hat diesen Namen in den Zusammenhang auch verdient. Es reizt die für den Gang wichtigen Muskeln. Es gibt Strom in vorprogrammierten Stufen ab und lässt Gelähmte gehen, wenn auch nur ferngesteuert. Denn das Gehirn kann den Schrittmacher ja nicht per Gedankenübertragung ausstellen. Das geht leider bei komplett Querschnittgelähmten nicht, weil bei ihnen das Rückenmark zu 100 Prozent durchtrennt ist. Sie erinnern sich … bei mir war das nur zu 95 % der Fall und tief, im ersten Lendenwirbel direkt unterhalb der Rippenbögen. Bei Till Raab haben die Ärzte das nicht so genau untersuchen können wie bei mir. Er wurde auf jeden Fall schwer im siebten und achten Brustwirbel verletzt, also sieben Wirbel höher als ich, in etwa zwischen Brustwarzen und Bauchnabel. Aber auch Till Raab war inkomplett. Und im Gegensatz zu vielen kompletten Querschnitten konnte er seine Beine spüren, auch wenn er das linke nicht bewegen konnte. Aber wenn der Schrittmacher sein Bein bewegen würde, dann wäre das Gehirn aktiv am Prozess beteiligt. Till Raab würde nicht ferngesteuert gehen. Das war nach unserem Gespräch dem Professor, mir und auch Till Raab klar. Und trotzdem war es nicht mehr als eine Hoffnung. Denn in der Praxis hatte das bis dahin nur im Tierversuch funktioniert.

 

Im Juni 2010 hat sich Till Raab als erster inkompletter Querschnitt auf der Welt einen Schrittmacher in die Hüfte einbauen lassen, vorerst auf eigene Kosten, so circa 68.000,- Euro teuer. Ich war bei der Operation dabei. Es war für Till Raabs zweiten Film bei SternTV. Von gut zwei Dutzend Operationen war das die interessanteste, die ich je fürs deutsche Fernsehen gedreht habe. Prof. Marc Possover hat Gynäkologie und Herzkranzgefäß-Chirurgie gelernt. Er gehört zu den Besten weltweit, die laparoskopisch operieren können. Der gebürtige Elsässer praktizierte jahrelang in Köln. Doch weil er kein Urologe ist, hat ihm sein damaliger Arbeitgeber in etwa gesagt: Arbeiten Sie an Eierstöcken und nicht den Nerven, die dahinter liegen. Dann ging der gute Mann in die Schweiz und fing dort an, Patienten per Laparoskopie Schrittmacher einzubauen. Dabei dringt er minimal-invasiv über vier kleine Schnitte im Bauchraum bis tief an das Becken. Ein Kollege unterstützt ihn dabei. Denn alles wird von einer HD-Kamera im Körper gefilmt. Prof. Possover arbeitet mit Spezialwerkzeug, wie einem Gamer an der Spiele-Konsole. Augen hat er nur für den Bildschirm. Vorteil: Durch die dünnen Geräte werden nur wenige Gefäße im Bauchraum verletzt. Kleine Blutungen werden direkt im Körper verödet. Nur er auf der Welt kann das im Moment so perfekt. Die Ausbildung anderer Ärzte hat aber bereits begonnen. Seine bahnbrechende Methode hat der damals 48-jährige erst jetzt bekannt gemacht. Er musste erst sicher sein, dass alles einwandfrei funktioniert, und er sich nicht angreifbar macht. Seine neue Fachmedizin hat er Neuropelveologie genannt … Neuron: der Nerv, Pelvis: das kleine Becken, also die Lehre vom kleinen Becken. Eine Wissenschaft ist geboren, die mit Sicherheit noch vielen helfen wird.

 

Till Raab war für Prof. Marc Possover deswegen so interessant, weil er bis dahin nicht sagen konnte, ob es auch in diesem Fall funktionieren würde. Komplette Querschnitte spüren ja gar nichts mehr unterhalb des Bruchs und damit auch nicht den Strom. Wie hoch Prof. Marc Possover den nötigen Strom bei inkomplett Gelähmten einstellen kann, das konnte bis dahin noch nicht untersucht werden. Dafür hatte er jetzt Till Raab, um eben das auszuprobieren. Später, im stillen Kämmerlein, hat mir der Professor verraten, dass er selten so aufgeregt war, wie bei Tills OP.

 

Doch alles ist gut gegangen. Blase und Organe wurden kontrollierbar. Und … kaum drei Monate später konnte Till Raab sein bis dahin völlig gelähmtes linkes Bein anheben, sogar wenn der Schrittmacher ausgestellt war. Der Strom hatte die Nervenleitungen „durchgeblasen“. Wie das Training hatte er die Nerven zu neuem Wachstum angeregt, nur viel schneller als wir das erwartet hatten. Bisher war das nur im Tierversuch bewiesen worden. Nerven können bis zu einen Zentimeter wachsen, wenn sie entsprechend gereizt werden.

 

Till Raab ist mittlerweile Stammgast bei SternTV, die ihn und mich seit Jahren begleiten und immer wieder Mittwochs ab 22.15 Uhr auf RTL berichten.

 

Till geht heute schon mehrere Kilometer am Stück, an Unterarm- oder sogar Handgestütze. Und er wird bald noch weiter gehen können … besser, als er und ich das zu Beginn seiner Wiederauferstehung zu träumen gewagt hätten. Es gibt mittlerweile bereits Tage, an denen er komplett zu Fuß auf den Beinen ist, von Bettkante zu Bettkante sozusagen. Anfangs war erklärtes Ziel, nicht mehr zu 100 Prozent auf den Rollstuhl angewiesen zu sein. Dafür hat der Zimmermann jeden Tag hart an sich gearbeitet, auch wenn der genaue Ausgang lange nicht klar war. Dabei hat er versucht, so wenig wie möglich von der Zukunft zu träumen. Denn die war eh unsicher und nicht so voraussagbar. Aber Till Raab war offen, immer wieder Neues auszuprobieren. Und wenn etwas mal nicht direkt funktioniert hat, dann war er bereit, über Monate hinweg geduldig weiterzuarbeiten, ohne dass ihn Angst und Müdigkeit lähmen konnten. Das alles ist kein Wunder, das ist System und natürlich reine Kopfsache. Wer so an seine Krankheit herangeht, der macht das Glück kontrollierbar.

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